Leben mit Farbe

Bericht eines angehenden Innenarchitekten

ein Gastbeitrag von Stephan Scholz

Oft kommt es anders als man denkt. Das wissen wir inzwischen alle nur allzu gut. Mein ursprünglicher Plan: ein einjähriger Roadtrip durch die Schweiz und Europa in meinem Kastenwagen, namens Otto. Anfang September 2019 startete ich. Dann erreichte im März 2020 das Coronavirus Europa, sodass ich mich gezwungen sah meine Reise abzubrechen.


Zurück in meiner Wahlheimat Zürich begab ich mich direkt auf Wohnungssuche – das ist in dieser Stadt nicht ganz ohne. Nur mit grossem Glück bekam ich meine heutige Wohnung zugesprochen. Unweit des Stadion Letzigrund, im ruhigen Quartier Albisrieden, befindet sich die kleine Stadtwohnung. Die Gegend ist geprägt von unaufgeregten Bauten aus den Fünfzigern und Sechzigern. Mein 75 m2 grosses «Bijou» jedoch ist in einem sanierten Gebäude aus den Dreissigerjahren untergebracht. Entsprechend aufgeräumt und einfach ist der Wohnungsgrundriss. Betritt man die Wohnung, steht man in einem kurzen Gang. Gleich rechts, das Badezimmer. Einige Schritte weiter, auf der linken Seite, das Esszimmer gefolgt vom Wohnzimmer. Gegenüber, die Küche. Am Gangende noch das Schlafzimmer. Schön kompakt. Alle Wände in einem inzwischen vergilbten Weisston.

Neue Regeln für das Zuhause

Das kurze Leben auf 7 Quadratmeter hat in mir einen grundlegenden Veränderungswunsch ausgelöst. Begrenzte Ressourcen und gefühlt unendlich viel Zeit bedingen eine Rückbesinnung auf das Essentielle. Und so hat mich die monatelange Selbstreflexion beruflich zu einem grossen Schritt bewegt. Meinen bisherigen Werdegang hänge ich an den Nagel und starte nochmals in eine neue Richtung durch. Voraussichtlich studiere ich ab 2021 Innenarchitektur an der Hochschule Luzern. Innenarchitektur reizt mich. Denn Raumgestaltung beeinflusst Menschen in allen Lebensbereichen. Ob beim Arbeiten, Wohnen, Lernen, Gesundwerden, in der Gastronomie oder beim Geniessen irgendeines kulturellen Angebots. Raumdesign kann eine profunde Auswirkung auf das Gesamterlebnis, letztendlich sogar auf das individuelle Wohlbefinden haben. Akut im Fokus steht momentan das eigene Zuhause. Im Vitra E-Paper «Die neue Dynamik des Wohnens» ist zu lesen, dass aufgrund von Homeoffice – dem neuen Arbeitsmodus, der sich voraussichtlich langfristig als Teillösung durchsetzen wird – die räumliche Funktionalität und Ästhetik neu evaluiert werden müssen. Laut der renommierten britischen Interieurdesignerin, Ilse Crawford, gewinnt gerade durch die zunehmende Isolierung, verstärkt durch digitalisierte Interaktionen1 und die Veränderung der Ästhetik des öffentlichen Raumes, dass eigene Zuhause als sicherer Rückzugsort zunehmend an Bedeutung. Siehe dazu den Essay «Wie das Coronavirus die Architektur verändern wird» im oben genannten Vitra E-Paper, Seiten 20 – 23. Eine spannende Zeit, sich mit räumlicher Gestaltung zu befassen. Was uns zum eigentlichen Thema dieses Beitrags bringt: Leben mit Farbe!

Farbe an der Wand oder der Gebäudefassade ist schliesslich eines der kostengünstigsten Gestaltungsmittel, mit dem ausserdem die räumliche oder architektonische Qualität rasch und unkompliziert verbessert werden kann. Ich ignoriere an dieser Stelle jeglichen Einwand, Farbe an der Wand sei nur etwas Artifizielles, etwas Aufgetragenes, reine Dekoration. Ich stimme Le Corbusier zu: «Farbe ist ein Auslöser starker Wirkungen. Farbe ist ein Faktor unserer Existenz.». Bleibt also nur noch die Frage des Farbtons.

Das Experiment mit den Le Corbusier Farben

In jeder Veränderung steckt auch eine Chance. Und so nehme ich mir meine neue Wohnung als vergilbten, leeren Canvas vor, auf dem ich mich im Umgang mit der Polychromie Architecturale üben kann. Erfahrungen habe ich bisher nur mit den Farben von Farrow and Ball sowie Little Greene gemacht. NCS und RAL gehören natürlich auch zum Repertoire.

Bei Betrachtung des Farbfächers der Polychromie Architecturale fällt mir die einzigartige Qualität der Farbtöne sofort auf. Das unverkennbare 32020 bleu outremer 31. Ein absoluter Farbklassiker. Der erdige Rotocker 32110 l’ocre rouge – die farbliche Verkörperung vom dänischen «Hygge». Oder das mysteriös leuchtende Künstlerrot 32101 rouge rubia, dessen Ursprung auf die Färbepflanze Rubia tinctorum zurückzuführen ist. Aber auch der logische Aufbau und die Stimmigkeit der Farbreihen sowie die Kompaktheit des Farbsystems überzeugen mich. Le Corbusier hat in akribischer Feinarbeit 63 Farbtöne für seine Kollektion von Architekturfarben entwickelt. Die ersten 43 Farbtöne, Anfang der Dreissigerjahre lanciert, gehören zur ersten Kollektion und sind grösstenteils eher zurückhaltend. Die zweite Kollektion, die Le Corbusier Ende der Fünfzigerjahre kreierte, umfasst 20 weitere deutlich kräftigere Farbnuancen – vermutlich als Gegenpol zu den damals aufkommenden nüchternen, brutalistischen Bauten. Zudem hat Le Corbusier jedem Farbton bzw. jeder Farbreihe eine Bedeutung und Funktion zugemessen. Sowieso enthalten die Schriften zur Polychromie Architecturale interessante Überlegungen zum Umgang mit Farben am Bau: Farbe als Tarnmittel, zur räumlichen Klassifikation oder eben als Mittel menschliche Sensibilitäten, also auf der physiologischen sowie emotionalen Ebene, anzusprechen.

Farbgestaltung

Rasch entscheide ich mich für sieben Le Corbusier Farbtöne und nehme mir zudem einen neuen Farbumgang vor. Bisher setzte ich Farbe mit dem Ziel der tektonischen Raumgliederung ein. Hohe Farbkontraste, meist Weiss in Kombination mit partiell eingesetzten atmosphärischen Nuancen oder Akzentfarben, brechen straffe Raumstrukturen auf und schaffen Spannungs- und Überraschungsmomente. Aufgrund der simplen Raumgestaltung der neuen Wohnung gehe ich jetzt aufs Ganze. Ich möchte sehen wie es wirkt, wenn alle Vertikalen in einem Ton daherkommen. Oder sogar der komplette Raum, samt Decke, in einem und demselben Farbton gestrichen wird. Ebenso ist es mein Ziel harmonische Farbkombinationen sowohl in den einzelnen Räumen als auch der Gesamtgestaltung zu erreichen. Bei der Polychromie Architecturale fällt es mir ehrlich gesagt eher schwer die Fülle an perfekten Farbkombinationen auf nur einige wenige zu reduzieren. Die finale Auswahl ergibt sich aus dem Raumgefühl, das ich erzeugen möchte.

Die Ankommensgeste halte ich bewusst zurückhaltend. Einerseits, da der Eingangsbereich sowieso schon recht dunkel ist. Anderseits, um einen Spannungsbogen aufzubauen. 32013 gris clair 31, dass schwach leuchtende und luftige Perlgrau und die dritte murale ‘Samt’ Nuance innerhalb der Farbenklaviatur von 1931, ist dafür ideal. Die Farbe wirkt tatsächlich samtig weich und unterstreicht dezent die weissen Einbauschränke sowie Türrahmen. Indem auch die Decke denselben Grauton erhält, wirkt der schmale Eingangsbereich als Art beschützende Kuppel und gleich viel grosszügiger als er es in Wirklichkeit ist. Dass Grau, wie es Le Corbusier in seiner Farbtheorie festgehalten hat, Wände in den Hintergrund verschwinden lässt, kann ich also vollkommen bejahen.

Eine Hommage an den Salle à manger der Maisons La Roche-Jeanneret

32121 terre sienne brique wähle ich für die Küche. Wieder ein Klassiker – entdecke ich während meiner Recherche auf Pinterest und anderen designbezogenen bzw. Interior Design-Plattformen doch immer wieder unzählige Abwandlungen dieses Farbtons. Kein Wunder eigentlich, da dieser Farbton im Umgang eine hohe Flexibilität bzw. Kombinierbarkeit mit sich bringt. Das helle Ziegelrot steht einerseits im Kontrast zur grauen Kücheneinrichtung sowie dem weissen Fliesenspiegel und schenkt andrerseits dem Raum mollige Wärme – insbesondere bei Abendbeleuchtung. Ausserdem lässt mich dieser Farbton an Karamell denken, was sogar thematisch passt. Das Elfenbeinweiss 4320B blanc ivoire findet man hier an der Decke. Elegant, charmant, kreidig. Die stille Hintergrundfarbe und perfekte Ergänzung zur starken Sienaerde.

Dieselbe Flexibilität bietet 32102 rose clair, meinem Lieblingsfarbton. Wir stehen nun im Schlafzimmer. Entgegen gängiger Nutzungsempfehlungen verwende ich hier das helle oder mittlere dynamische Rosa. Meine Hommage an den rosafarbenen Salle à manger in Le Corbusiers Villa La Roche wirkt als farbliche Umarmung und strahlt warm, sobald die Nachmittagssonne in den Raum leuchtet. Die Farbe aus Rotocker mit Kreide lässt mich an mein Herkunftsland Südafrika denken – denn die Erde ist dort teilweise ähnlich gefärbt – und wirkt aufgrund seiner Pudrigkeit definitiv entspannend. Auch deshalb setze ich 32102 rose clair an der Decke im hochweissen Bad ein. Dr. Hildegard Kalthegener hat übrigens zum Puderpink einen lesenswerten Beitrag verfasst.

Inspiration durch die Unité d'Habitation in Marseille

Wider Erwarten polarisiert das im Wohnzimmer eingesetzte 32021 outremer moyen meinen Besuch mehr als das Puderpink des Schlafzimmers. Für viele ist eine vollflächige Nutzung von Blau anscheinend ungewohnt, teilweise sogar irritierend. Das begeistert mich! Nicht weil ich meine Gäste gerne ärgere, sondern da es mir aufzeigt, wie subjektiv Farbwahrnehmung tatsächlich ist und dass Farbe die Macht hat, bei Betrachter*innen Reaktionen auszulösen. Allerdings kann ich die Aufregung um das Himmelblau nicht nachvollziehen, da die erste Aufhellung des Ultramarinblaus 32020 bleu outremer 31 eine erhabene Ästhetik besitzt und in mir Assoziation zum Midcentury-Design weckt. Das leicht cremig wirkende, mit Grau durchsetzte, Ultramarinblau wirkt trotz seiner bunten Dynamik beruhigend und ist wie der Himmel an einem klaren, sonnigen Tag im Sommer. Ein perfektes Szenario für einen erfrischenden, abendlichen Drink auf dem Sofa – die Flügeltür zum Balkon selbstverständlich weit geöffnet. Wieder setze ich das Elfenbeinweiss 4320B blanc ivoire an der Decke ein. Ein stimmige sowie sophistizierte Farbharmonie.

Bei der Farbgestaltung des Esszimmers entscheide ich mich kurz vor meiner Bestellung der KABE Farben um und setze das markante 4320C rose vif an die Decke. Das elegante, mittlere Grau, 32011 gris 31, verschiebe ich dafür an die Vertikalen. In letzter Sekunde kamen mir die langen Gänge der Marseiller Unité d’Habitation in den Sinn. Dort setzt Le Corbusier gekonnt auf das Zusammenspiel zwischen Licht und Farbe. Er montiert über den bunten Wohnungstüren Lampen, dessen Licht er von den Türflächen auf die Decke reflektieren lässt. Eine faszinierende Farbkakofonie entsteht, wodurch die ellenlangen Gänge optisch gegliedert werden. Diese Idee greife ich auf, beschränke mich allerdings auf einen Farbton. Tagsüber verleiht das leuchtende Rosa dem Esszimmer einen modernen Touch und ist ein echter Hingucker. Beim Abendessen transformiert das von der Decke reflektierte Licht den Raum und schenkt diesem ein edles Ambiente, ja beinahe wie in einem schicken Club. Ausserdem bleibt meinen Gästen der ständige Blick auf das kräftige Rosa erspart. Stattdessen fügt sich das gris 31 in den Hintergrund, unterstreicht gleichzeitig die Strahlkraft des Farbakzents an der Decke, und lenkt damit nicht von meinen kulinarischen Künsten ab.

Leben mit Farbe – das Fazit

Farbgestaltung ist an sich eine Herausforderung und birgt oftmals Überraschungen. Es kommt oft anderes als man es denkt. Insbesondere wenn man auf Bestehendem aufbaut. Hinzu kommt, dass man es nicht allen recht machen kann. Das muss man aber auch nicht. Doch die Polychromie Architecturale hält, was sie verspricht. Das Zusammenstellen harmonischer Farbkombinationen gelingt im Handumdrehen. Ausserdem sind die Le Corbusier Farben etwas Besonderes, nichts Alltägliches. Und gerade heute, in unserer unbeständigen, chaotischen Welt, ist das Beständige, das Echte sehr gefragt. Und die meisterhaften Architekturfarben sind beständig. Selbst nach fünf oder sogar sieben Jahrzehnten haben diese nichts an ihrer Aktualität eingebüsst.

Jetzt, wo ich eine Menge Zeit in meiner Wohnung – die zumindest farblich einige Parallelen mit dem Pavillon de L'Esprit Nouveau aufweist – verbringe, spüre ich die Strahlkraft der Farben und ihren positiven Einfluss auf mein Wohlbefinden. Ich kann das Leben mit Farbe wärmsten empfehlen. Nun hoffe ich noch auf eines: die Zusage der Hochschule.

 

Alle Bilder: © Stephan Scholz

1 https://www.nytimes.com/2020/04/29/sunday-review/zoom-video-conference.html

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